Tulln/Donau (Österreich)

Datei:Karte A Noe TU 2017.svg Tulln a. d. Donau ist heute eine Kleinstadt mit ca. 17.000 Einwohnern und Bezirkshauptstadt des gleichnamigen Bezirks im Bundesland Niederösterreich (Kartenskizze von Niederösterreich mit Bez. Tulln dunkel markiert, A. 2016, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 3.0).

 

Die jüdische Gemeinde im niederösterreichischen Tulln gehörte zu den ältesten Gemeinden in Österreich.

Der früheste Beleg für die Existenz einer jüdischen Gemeinde im österreichischen Tulln stammt aus dem Jahre 1267; doch kann mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass sich jüdische Händler und Kaufleute bereits in der zweiten Hälfte des 12.Jahrhunderts in dem zu einem Handelszentrum entwickelnden Ort ansässig gemacht haben. Die hier lebenden Juden waren im Geldverleih, aber auch im Handel mit Wein und Spezereien tätig. Die Juden in Tulln siedelten sich zumeist in einem geschlossenen Stadtviertel (um die Fischergasse) an. Neben einer Synagoge und einer Mikwe besaß die mittelalterliche kleine Tullner Judengemeinde vermutlich auch einen Friedhof.

Als im Spätmittelalter die Juden immer mehr aus dem Darlehensgeschäft verdrängt wurden, hatte sich auch die Zahl der in Tulln lebenden Juden erheblich verringert. Von dem Pogrom 1338 - ausgelöst durch eine angebliche Hostienschändung in Pulkau - waren auch die Tullner Juden stark betroffen. Das vorläufige Ende der Tullner jüdischen Gemeinde brachte die große Judenverfolgung der Jahre 1420/1421; diese betraf alle Juden im Herzogtum Österreich. Das durch die Vertreibungen menschenleere Judenviertel in Tulln schenkte der Herzog Albrecht V. dem Kloster Dorothea und dem Schottenstift zu Wien.

Im Laufe des 16.Jahrhunderts siedelten sich hier zeitweilig wieder einige wenige jüdische Familien an, ehe sie erneut aus der Stadt vertrieben wurden. Nur zu Handelszwecken war ihnen in der Folgezeit gestattet, Tullner Stadtgebiet zu betreten. 

Ansicht von Sparr um 1750 Ansicht von Tulln, um 1750 (aus: wikipedia.org, gemeinfrei)

Erst Anfang des 18.Jahrhunderts bildete sich erneut eine kleine Judengemeinde in Tulln heraus; ihre Angehörigen lebten zumeist vom Kleinwarenhandel und betrieben Handel mit der bäuerlichen Landbevölkerung der Region, was der christlichen Kaufmannschaft missfiel; schließlich intervenierte der Stadtrat, der einen Teil der jüdischen Bewohner auswies. Die fortschreitende Emanzipation nach 1848 und das Staatsgrundgesetz von 1867 führte zu einer verstärkten Zuwanderung von Juden nach Tulln. Seit Ende der 1850er Jahre existierte eine kleine jüdische Gemeinde, der etwa 20 Familien angehörten. In einem Gebäude in der Albrechtsgasse wurde ein Betraum eingerichtet.

Offiziell gab es die Israelitische Kultusgemeinde Tulln erst mit der Inkraftsetzung des „Israelitengesetzes“ von 1890; ihr gehörten dann auch die wenigen Juden der Gerichtsbezirke Klosterneuburg, Atzenbrugg und Kirchberg a. Wagram an; Sitz der Kultusgemeinde war die Stadt Klosterneuburg. Mitte der 1880er Jahre stellte die Tullner Kommune der jüdischen Gemeinde auch ein eigenes Friedhofsgelände in der Paracelsusgasse zur Verfügung.

Juden in Tulln:

         --- 1870 ...................   52 Juden,

    --- 1880 ...................   77   “  ,

    --- 1890 ...................   91   “  ,

             ............... ca.  500   “  ,*    * gesamte Kultusgemeinde

    --- 1900 ...................  100   “  ,

    --- 1910 ...................  118   “  ,

    --- 1933/34 ................   72   “  ,

    --- 1940 (April) ...........    8   “  ,

    --- 1941 ...................    keine.

Angaben aus: Peter Schwarz, Tulln ist judenrein !  Die Geschichte der Tullner Juden und ihr Schicksal ..., S. 34

 

Bis gegen Ende des 19.Jahrhunderts war das Alltagsleben der Tullner Juden noch weitgehend von religiösen Grundsätzen geprägt. Im Zuge der Assimilation war eine deutliche Abkehr von diesen zu verzeichnen; nur noch an hohen Feiertagen kamen die Gemeindeangehörigen im Bethaus zusammen. In der katholisch-konservativ geprägten Kreisstadt bestanden zwischen jüdischen und nichtjüdischen Familien vielfältige private Beziehungen; nicht nur Duldung, sondern breite Akzeptanz bestimmte das Verhältnis zueinander. Doch gab es aber auch in Tulln latenten Antisemitismus.

In den 1920/1930er Jahren waren die meisten Juden Tullns in akademischen Berufen und im Handel und Gewerbe tätig.

Unmittelbar nach dem sog. „Anschluss” im März 1938 wurden auch die Juden Tullns gesellschaftlich und wirtschaftlich isoliert. Antisemitische Schmierereien, Boykotte, Hausdurchsuchungen, Tätlichkeiten u.a. sowie öffentliche Diffamierungen (so wurden sie z.B. gezwungen, mit bloßen Händen oder Zahnbürsten Gehsteige und Wände von Parolen der „Vaterländischen Front“ zu reinigen bzw. ihre Häuser wurden mit „Saujud“ oder „Juda verrecke“ beschmiert) veranlassten die Juden Tullns, ihren Heimatort zu verlassen; sie zogen zumeist nach Wien.

Am 21.9.1938 hatte die Kommune ein „Judenausgehverbot” verfügt:

An alle Juden in Tulln. Es wird hiermit aus Gründen der öffentlichen Ruhe und Ordnung die Verfügung getroffen, daß Juden und Jüdinnen nur in der Zeit von 8 bis 10 Uhr vormittags auf öffentlichen Straßen, Gassen und Anlagen sich aufhalten dürfen. Zu anderen Zeiten haben sie die Verwahrung bezw. Verhaftung zu gewärtigen.                                                                                             Der Gemeindeverwalter

Während des Novemberpogroms von 1938 konzentrierte sich in Tulln die „Volkswut“ auf den jüdischen Friedhof; das lag wohl daran, dass die jüdische Gemeinde über kein Synagogengebäude verfügte und der Betraum bereits längere Zeit geschlossen war. Einheimische SS-Angehörige zerschlugen Grabsteine und zerstörten die Friedhofshalle. Elf Juden aus Tulln und Umgebung wurden verhaftet, jüdische Geschäfte geplündert.

In den „Tullner Nachrichten” erschien am 18.11.1938 der folgende Artikel:

Verlautbarung

Infolge des feigen Mordanschlages .... ist es auch in Tulln zu Ausschreitungen und Aktionen gegen Juden gekommen. Um nun den hier umlaufenden Gerüchten entgegenzutreten, erklären die kommissarischen Verwalter der betroffenen jüdischen Geschäfte ..., daß die bei diesen Aktionen beschlagnahmten Waren listenmäßig erfaßt wurden und der NSV (Winterhilfe) zugeführt wurden. Daß es hiebei zu Plünderungen oder wilden Aneignungen gekommen ist, sind böswillige Gerüchte ...

Die Kultusgemeinde wurde 1939 offiziell aufgelöst. Ende des Jahres 1940 wohnten in Tulln nur noch drei „in Mischehe“ verheiratete Jüdinnen. Insgesamt gelang 47 jüdischen Bewohnern die Emigration. Dem Holocaust fielen 36 Juden aus Tulln zum Opfer.

 

Nach Kriegsende kehrten sieben Juden aus der Emigration nach Tulln zurück

Um den Charakter einer Begräbnisstätte zu wahren, wurden auf dem Areal des ehemaligen jüdischen Friedhof an der Paracelsusstraße - in Ermangelung historischer Grabsteine - mehrere gleichgestaltete symbolische Steine gesetzt. Von den orginalen Grabsteinen sind nur noch drei erhalten, die restlichen ‚verschwanden’ in der NS-Zeit.

Jüdischer Friedhof Tulln 4.jpgJüdischer Friedhof Tulln Gedenktafel 2.jpg

Symbolische Grabsteine  und  Gedenkstele (Aufn. 2016, aus: commons.wikimedia.org, CC BY-SA 4.0)

Seit 1992 erinnert zudem auf dem Friedhofsgelände ein Gedenkstein an die Holocaust-Opfer aus der Tullner Gemeinde.  

 Die im Frühjahr 2002 freigelegte Nordwand des (vermutlich) mittelalterlichen Synagogengebäudes in der Tullner Fischergasse (Aufn. Niki L. 2017, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 4.0)

 

 

 

In Oberstockstall – einem kleinen Ortsteil der Marktgemeinde Kirchberg/Wagram im Bezirk Tulln – erinnert der um 1890 angelegte jüdische Friedhof daran, dass im Umland ehemals jüdische Familien gelebt haben. Das Gelände diente den Familien aus Kirchberg und umliegenden Dörfern als letzte Ruhestätte. Auf dem etwas versteckt im Wald gelegenen Friedhof befinden sich heute noch ca. 45 Grabsteine. Die Begräbnisstätte wurde jüngst einer Sanierung unterzogen und an die Standortgemeinde übergeben (2023).

                   undefined Aufn. Salvestro 2011, aus: wikipedia.org, CC BY-SA 3.0 at

 

 

 

Weitere Informationen:

Hugo Gold (Bearb.), Untergegangene Judengemeinden, in: H. Gold (Hrg.), Geschichte der Juden in Österreich - ein Gedenkbuch, Olemanu-Verlag, Tel Aviv 1971, S. 109

Andrea Jakober, Die jüdische Gemeinde in Tulln, Wien (1988/89)

Pierre Genée, Synagogen in Österreich, Löcker Verlag, Wien 1992, S. 23 und S. 78/79

Germania Judaica, Band III/2, Tübingen 1995, S. 1492/1493

Peter Schwarz, Tulln ist judenrein ! Die Geschichte der Tullner Juden und ihr Schicksal von 1938 bis 1945: Verfolgung - Vertreibung - Vernichtung, Löcker-Verlag, Wien 1997

Peter Schwarz, Tulln ist judenrein ! Die Geschichte der Tullner Juden und ihr Schicksal von 1938 bis 1945 . Vortrag anläßlich der Buchpräsentation im Minoritenkloster Tulln, aus: "Jahrbuch 1998. Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes", Wien 1998, S. 95 - 102

Simon Paulus/Karin Kessler, Religiöse Bauten jüdischer Gemeinden in Österreich. Zur Dokumentation eines vergessenen architektonischen Erbes, in: "DAVID - Jüdische Kulturzeitschrift", Heft 56 (Mai 2003)

Simon Paulus, “ ... in der Judenschuell’ - Neue Befunde zur mittelalterlichen Synagoge in Tulln, in: "DAVID - Jüdische Kulturzeitschrift", Heft 58/ 2003, S. 5 - 10

Walter Baumgartner/Robert Streibel, Juden in Niederösterreich: ‘Arisierungen’ und Rückstellungen in den Städten Amstetten, ..., Korneuburg, Krems, Neunkirchen, Tulln ... und Wiener Neustadt, in: "Veröffentlichungen der österreichischen Historikerkommission", Band 18, Wien 2004

Christoph Lind, “Der letzte Jude hat den Tempel verlassen ...” - Juden in Niederösterreich 1938 - 1945, Mandelbaum-Verlag, Wien 2004, S. 208 ff.

Eveline Brugger, Adel und Juden im mittelalterlichen Niederösterreich. Die Beziehungen niederösterreichischer Adelsfamilien zur jüdischen Führungsschicht von den Anfängen bis zur Pulkauer Verfolgung 1338, in: "Studien und Forschungen aus dem Niederösterreichischen Institut für Landeskunde", Band 38, St. Pölten 2004

E. Brugger/B. Wiedl, Zwischen Privilegierung und Verfolgung. Jüdisches Leben im Mittelalter in Niederösterreich, in: "DAVID - Jüdische Kulturzeitschrift", Heft 64/2005

Christoph Lind (Bearb.), Die Zerstörung der jüdischen Gemeinden Niederösterreichs 1938 – 1945, in: H. Arnberger/C. Kuretsidis-Haider (Hrg.), Gedenken und Mahnen in Niederösterreich. Erinnerungszeichen zu Widerstand, Verfolgung, Exil und Befreiung, Mandelbaum-Verlag, Wien 2011, S. 46 ff.

Roderich Geyer, Die Tullner Altstadt. Ein Stadtführer mit historischen Anmerkungen, Tulln 2012, S. 8/9

OTS (Red.), Jüdische Friedhöfe Oberstockstall und Waidhofen an der Thaya nach Sanierung übergeben, in: ots.at vom 17.3.2023